Die Milchstraße - Mein Pilgerweg von Ferrol nach Santiago de Compostela (camino ingles)

Von der Freiheit des Spielens und des Entdeckens

 

"Ich genieße sie, die Freiheit des Spielens und des Entdeckens," denke ich, während wir auf einem kleinen Hochplateau dahingehen, "obwohl ich ahne, dass ich am Ende mit Sartre sagen werde, ich glaube, mit mehr Glück hätte ich mehr tun und es besser machen können.”

"Ich genieße die Freiheit, den Dingen auf den Grund zu schauen oder es zu unterlassen," formuliere ich halblaut und muss dabei lächeln.
"Es ist schon seltsam, wie gut es mir tut," unterbreche ich meinen Gedanken und trinke aus der Wasserflasche einen großen Schluck.

Würde mich jetzt einer meiner Freunde auffordern, ich möge ihm erklären, was das, was ich gerade mache, für einen Sinn ergibt, antwortete ich:
"Ich gestatte mir die Flucht aus der Verantwortung für mein Tun zu unterbrechen und schaffe, vorerst in meinem Kopf, Bilder. Aber das weißt Du ja, so ist das immer bei mir, wenn ich tagträume und das mache ich so oft ich es mir erlauben kann."

Oder ich würde sagen: "Mir ist gerade klar geworden, dass ich manchmal Angst habe für mein Tun die Verantwortung zu übernehmen, ich überlege mir, wie ich diese Verantwortung, ohne es mir eingestehen zu müssen, abschieben kann." Und würde fortfahren: "Aber sie steht mir nicht, die Rolle des Opfers widriger Umstände, ich kann nicht ehrlichen Herzens behaupten, dass Hindernisse mich mehr erschrecken als herausfordern.
Auch wenn ich es möchte, sie steht mir einfach nicht."
"Wie Dir bekannt ist, ist es mir zutiefst zuwider die Ohnmacht durchleben zu müssen, die sich dort breit macht, wo mein Wollen versagt.
Eigentlich ist es ganz einfach: Ich ertrage sie nicht, die Rolle des Opfers. Der Mensch ist eben nur, was er aus sich selbst macht, was er leistet."

Die Freiheit des Spielens und des Entdeckens - Heinrich Wagner aus dem Zyklus finis terrae

Ich wüsste zu gerne was mein Freund antworten würde, mir fällt einfach nichts ein, was ich ihm in den Mund legen könnte, also beende ich den stillen Dialog mit dem Satz: "Die anderen haben oder haben nicht, hätten doch, sollten wenigstens gehabt haben, es geht nicht an, dass es um die anderen geht."
Ich bedauere, dass ich keinen Partner für diesen Dialog habe, dessen Antwort mir ein Stichwort liefert.
Schade, dass ich so aus dem Gedankengespinst herausfalle, hätte ich doch so gerne noch an passender Stelle angefügt: "Ich lasse es zu, ich habe es zugelassen, ich habe daran mitgearbeitet."

In die Erkenntnis, dass ich allein keinen vernünftigen Dialog zustande bringe, platzt die Erinnerung an meine erste Philosophievorlesung, in die ich, aus Neugier und weil ich nichts Besseres vorhatte, mitgegangen bin.
Damals war ich stolz Student der Akademie der Bildenden Künste in Wien zu sein. Ich war einer von sechsunddreißig, welche die Hürde der Aufnahmsprüfung genommen hatten. Mehr als 300 hatten sich beworben. Einem Auserwählten gleich habe ich mich dazu berufen gefühlt, die abendländischen Malerei mit meinen noch zu schaffenden Werken entscheidend zu bereichern. Ich war einer, der fest daran geglaubt hat, dass Bilder malen, wie nur ich sie malen kann, mein Beitrag zu einer besseren Welt sein werde.

"Gehst Du mit in die Sartre Vorlesung bei Kampits?", hatte sie mich gefragt und ich nickte nur.
Wir waren im Café gesessen, zufällig, ich hatte nichts vor und außerdem schadet intellektuelles Futter nicht, hatte ich gedacht, mag sein in einer anderen Formulierung, und war mitgetrabt.
Der Hörsaal lag zum Innenhof der Uni, mit großen Fenstern, durch die schattiges, von den Blättern der Bäume reflektiertes, Licht in den Saal fiel. Er roch, wie alle ehrwürdigen Hörsäle der Universität an der Ringstraße in Wien riechen, nach Menschen und Bohnerwachs, die Bankreihen auf Stufen, damit die Studenten den Vortragenden besser sehen können oder er sie.

Da saß ich nun und wartete. Kampits kam, begann nach der Begrüßung einen Satz in französischer Sprache vorzulesen. Ein Satz in französischer Sprache. Ich verstand nichts und bereute im Französischunterricht nicht intensiv mitgearbeitet zu haben. Ich verstand den Satz aber auch in seiner deutschen Übersetzung nicht. Kampits las atemberaubend lange Sätze aus "Das Sein und das Nichts" vor, übersetzte, erläuterte und alle blickten konzentriert auf ihn. Auch ich. Ich sehnte das Ende der Vorlesung herbei.

Beunruhigt und beschämt ob meiner Unzulänglichkeit hoffte ich nicht nach meiner Ansicht gefragt zu werden. Ich verhielt mich still und wartete auf eine Äußerung meiner Begleiterin. "Ich habe kein Wort verstanden", sagte sie und erlöste mich so von meinen Qualen. Wie schön ist es doch, wenn man nicht allein ist mit der Unwissenheit.
Die Woche darauf bin ich wieder hingegangen. Teils, weil ich, wie gesagt, in diesen Stunden nichts Besseres zu tun hatte, teils, weil ich hoffte, dass sich aus dem, was ich nicht verstanden hatte, würde ich es erst verstehen gelernt haben, ein wichtiges Geheimnis entbergen werde.

Fragmente, abgelegt in meinem Gedächtnis:

    Die Hölle ist in jedem Menschen selbst enthalten und möglich.
    Nach dem Erlebnis der Hölle gibt es keine absolute Freiheit mehr.
    Der Mensch hat die Freiheit, den Dingen auf den Grund zu schauen.
    Er hat die Freiheit des Schaffens.
    Dies Geschenk der Freiheit, entscheiden zu können ist zugleich ein ”du bist verantwortlich dafür”.
    Freiheit, Existenz und Verantwortung hängen unabdingbar zusammen.
    In der Übernahme von Verantwortung wird der Mensch ein existentielles Wesen. In dem Moment, wo ein Mensch für seine Tat einstehen kann, sie verantwortet, sie als Ausdruck seiner Existenz akzeptiert, ist er auf dem Weg in die Freiheit. 

Tja, der Kampits, seufze ich halblaut; dabei komme ich mir wie einer der Veteranen vor, die, wie man sich erzählt, ihr Glück darin finden Erinnerungen an längst vergangene Zeiten lebendig zu halten. Ihnen geht es, sagt man, auch mehr um eine gute Geschichte, als um eine unumstrittene Wahrheit.

Um Zweifler zu beruhigen: Die Begebenheit ist nicht erfunden, ich räume ein, die Wiedergabe ist eben eine Wiedergabe.

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